Wunder mit Wartezeit

Wie „gottvergessen“ ist die Gesellschaft heute? Das fragt Hans-Martin Harder aus Greifswald.

Der Predigttext des folgenden Sonntags lautet: „…denn morgen wird der Herr Wunder unter Euch tun.“ Josua 3, 5-11 und 17
Im Bund der evangelischen Kirchen haben wir Ende der 1980er-Jahre geschätzt, dass nach zwei kirchenfeindlichen Diktaturen höchstens zehn Prozent der Bevölkerung noch der Kirche angehören würden. Als dann nach Wiederherstellung der deutschen Einheit die ersten Steuererklärungen in den „neuen Bundesländern“ abzugeben waren, zeigte sich, dass noch mehr als 30 Prozent bei der Kirche geblieben waren, jedenfalls ihre Kirchensteuer entrichteten. So „gottvergessen“, wie wir befürchteten, war man offensichtlich doch nicht.
Wie sieht es heute aus? Wer in Mecklenburg-Vorpommern auf dem Greifswalder Markt Menschen nach „Kirche“ fragt, wird kaum jemanden finden, dem nichts dazu einfällt. 
Gut möglich, dass man sich nicht an die letzte Sonntagspredigt erinnert und lange keine Kirche von innen gesehen hat. Aber die schönen Kirchen in Stadt und Land sind allen vertraut und wenigstens zu den weihnachtlichen Christvespern gefüllt. Manch einer erinnert sich an wunderbare Kirchenmusikkonzerte. Vielleicht hat sich auch jemand darüber geärgert, dass er zur „Bläsermusik im Kerzenschein“, einer sehr beliebten Adventstradition in Mecklenburg-Vorpommern, wegen Überfüllung nicht mehr hereinkam. 
Andere werden an ihre Angehörigen denken, die in Einrichtungen der kirchlichen Diakonie betreut werden, oder an Kinder in kirchlichen Kindergärten und Schulen. Mancher wird auch das Friedenslicht aus Bethlehem, das kurz vor Weihnachten von den katholischen Pfadfindern verteilt wurde, aus der kleinen Adventskirche auf dem Greifswalder Weihnachtsmarkt mitgenommen haben. Und schließlich lesen jede Woche mehr Menschen die Kirchenzeitung als im Gottesdienst sitzen.
Bei Josua besteht das Wunder darin, dass das Volk Israel trockenen Fußes durch den Jordan kam, weil es sich auf die Präsenz der Bundeslade verließ. Aber das geschah nicht ohne eine lange Wartezeit vordem. Die Kirche ist auch heute präsent. Aber haben wir die Geduld und die Zuversicht, dass Gott Wunder unter uns bewirkt? Im neuen Jahr sollten wir das nicht aus den Augen verlieren!
Unser Autor
Hans-Martin Harder
ist ehemaliger Konsistorialpräsident in Greifswald, Mecklenburg-Vorpommern.
Zum Predigttext des folgenden Sonntags schreiben an dieser Stelle wechselnde Autoren. Einen neuen Text veröffentlichen wir jeden Mittwoch.