Wenn die Füße nicht mehr tragen

Obdachlose sind auf der Straße besonderen Härten ausgesetzt. Wer krank wird und darum nicht weiter weiß, kann in speziellen Wohnungen von Diakonie oder Caritas Unterstützung finden – wie Michael C.

Michael C. (58) in der diakonischen Krankenwohnung "Die Kurve" in Hannover
Michael C. (58) in der diakonischen Krankenwohnung "Die Kurve" in HannoverJens Schulze / epd

Hannover. Er wollte eigentlich nur kurz Bier holen gehen. Doch Michael C. kam nicht mehr bis zum Kiosk, Schmerzen stachen in seinen rechten Fuß. "Da kam Blut aus dem Schuh", erzählt der 58-Jährige mit Schildmütze und grauem Rauschebart, der viele Jahre ohne Obdach auf der Straße gelebt hat. "Und es kamen Fliegen, die haben das gerochen." Im Krankenhaus erhielt er eine schockierende Diagnose: In dem schwer entzündeten Fuß hatten sich schon Maden eingenistet. "Ich hatte ja drei Wochen die Stiefel nicht ausgezogen." An das Leben auf der Straße war nicht mehr zu denken.
Seit einem halben Jahr lebt Michael C. jetzt in der diakonischen Krankenwohnung "Die Kurve" in Hannover. Sechs deutsche Städte bieten inzwischen solche Wohnungen an, alle betrieben von Diakonie und Caritas. Hier können Obdachlose zur Ruhe kommen und ihre Leiden auskurieren. Hannover und Köln waren vor rund 20 Jahren die Pioniere, Osnabrück, Hamburg, Berlin und Dortmund sind nachgezogen.

Ein Ankerpunkt

Werena Rosenke von der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe ist froh über das steigende Angebot: "Die Wohnungen sind ein Ankerpunkt, um von da aus weiterführende Hilfe zu organisieren." Zwar bleibe es oberstes Gebot, für jeden Obdachlosen eine eigene Wohnung zu finden. Doch Krankenwohnungen seien eine gute Zwischenlösung für Wohnungslose, die gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden seien und auf keinen Fall auf die Straße zurück könnten: "Es muss ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass wohnungslose Menschen diesen Bedarf haben und dass man sie nicht einfach vor die Tür setzen kann."
Michael C. hatte in Hannover drei Jahre lang "Platte gemacht", bevor er in die "Kurve" kam. Vor einem Geschäft in der City war sein Stammplatz, hier hat er mit Decken und Schlafsack auch bei Regen und Schnee übernachtet. Nur bei eisigen Minusgraden zog er in eine Notunterkunft. Sein Hab und Gut schob er in einem Einkaufswagen vor sich her.
"Das Schöne an der Straße ist: Du kannst machen, was du willst", sagt der gebürtige Lübecker. Okay, die Polizei schränke einen manchmal ein. Doch viel schlimmer seien die Diebstähle von Schlafsäcken oder Kleidern: "Da wirst du als Obdachloser auf der Straße noch von anderen beklaut – da kann man den Glauben an die Menschheit verlieren." Einmal wurde er nachts auf einer Parkbank von zwei Jugendlichen angegriffen und am Kopf verletzt.

Quer durch den Norden gezogen

Michael C. hat mal Betriebswirtschaft studiert, so erzählt er. Doch als sein Elternhaus verkauft werden musste, sei er auf der Straße gelandet und dann quer durch Norddeutschland gezogen. Lebte zeitweise bei Freunden, in Heimen oder in Schrebergärten. Sonne, Wind und Wetter haben ihre Spuren in seine Haut gegraben. "Ich bin nie dem Staat zur Last gefallen, ich hab mich immer durchgeschlagen."
Auch in der Krankenwohnung ist er noch im Zwiebellook gekleidet wie früher: ein T-Shirt, zwei Hemden, eine Weste und zwei Jacken übereinander. "Wenn man draußen lebt, ist man gewohnt, immer die Klamotten anzuhaben." Mit fünf Mitbewohnern teilt er sich jetzt die Wohnung. Einige sind sehr schwer krank: Ein Mann und eine Frau haben Krebs. Einer anderen Frau sind in der Kälte die Beine erfroren, sie mussten amputiert werden. Eine Krankenschwester versorgt alle Bewohner medizinisch.
Einmal in der Woche kocht oder backt die ganze Gruppe zusammen. "Es ist wie in einer Familie", sagt Sozialarbeiterin Sibylle Petersen. Sie steht den Bewohnern der "Kurve" im Alltag zur Seite und begleitet sie auch bei Arztbesuchen, Behördengängen oder zur Schuldnerberatung. Petersen sieht Staat und Gesellschaft in der Pflicht, Wohnungen für Obdachlose bereitzustellen: "Wenn sie erst einmal ein Zuhause haben, entstehen viele Krankheiten erst gar nicht."
Zehn Quadratmeter hat Michael C. jetzt vorübergehend für sich, dazu gemeinsame Wohnräume, Küche, Bad. "Man hat sein eigenes Reich und kann auch mal die Tür zumachen." Allerdings musste er sich erst einmal an den neuen Lebensstil gewöhnen. Anfangs hortete er seine Sachen noch zum Teil im Bett und schlief im Sitzen. Doch das hat sich nach ein paar Wochen geändert.

Eine Perspektive

Zeitlich begrenzt ist der Aufenthalt in der Krankenwohnung nicht. Doch die "Kurve" entwickelt gemeinsam mit den Bewohnern eine Perspektive, wie es weitergehen soll. Ziel ist meist der eigene Wohnraum. Je nach Bedarf vermitteln Petersen und ihre Kolleginnen auch in ein Wohnheim, ein Pflegeheim und manchmal sogar ins Hospiz.
Michael C. hofft auf eine neue Bleibe, die er bald beziehen kann. Eine eigene Wohnung zu finden, ist schwer, das weiß er: "Einen Schrebergarten würde ich auch nehmen." Für Sibylle Petersen jedenfalls steht fest: "Wir bieten den Menschen nicht die Möglichkeit und den Raum, ihre gesundheitliche Situation zu verbessern, um sie anschließend wieder auf die Straße zu entlassen." (epd)