Weltschmerz

Über den Anfang des Jahres schreibt Pastor Tilman Baier. Er ist Chefredakteur der Evangelischen Zeitung und der Kirchenzeitung Mecklenburg-Vorpommern.

Der Predigttext des folgenden Sonntags lautet: „Trachtet nicht nach hohen Dingen, sondern haltet euch herunter zu den geringen. Haltet euch nicht selbst für klug. Ist es möglich, soviel an euch ist, so habt mit allen Menschen Frieden.“ aus dem Römerbrief, (1-8)  9 bis 21
Missmutig sah er in den nebligen Januartag hinaus. Dabei liebte er diese ersten Tage des neues Jahres, in der es wenigsten die Illusion gab, die Welt und er selbst hätten sich gehäutet – alles Alte, Schmutzige, Verbrauchte sei zurückgeblieben. Doch dieses Mal hatte er seinen Ärger mitgenommen: Er hatte durch den Arbeitswechsel schnell eine bezahlbare Wohnung in der Stadt gebraucht. Damit hatte er sich auch Nachbarn eingehandelt, die laut waren, zu viel Alkohol tranken, keine Kultur hatten – und dann noch ihre Stütze in der Silvesternacht begeistert in den Himmel schossen.
Doch irgendwie beneidete er diese Menschen auch, um ihre ungezwungene Art zu feiern, um ihre Fröhlichkeit trotz ihrer Probleme. Es war dieser stille Neid in ihm, der ihn noch missmutiger machte. Aber es gab ja auch anderes: das Gute und Schöne und Vollkommene. Ja, er würde an diesem Wochenende ins Museum gehen – bei den Bildern der Alten Meister würde er das alles für ein paar Stunden vergessen.
Ihm fielen plötzlich Gesangbuchverse ein, in denen sich der Dichter, angeekelt vom Getriebe einer bösen Welt, weit weg sehnte. Früher hatte er über diese Lieder nur gelächelt. Nun war ihm, als seien sie für ihn geschrieben worden.
Die Sehnsucht, sich aus dieser Welt verabschieden zu können, der Weltschmerz hat wohl schon fast jeden einmal gepackt. „Macht euch nicht dieser Welt gleich“, schreibt auch der Apostel Paulus an die Christen in Rom, der verlotterten Weltstadt. Und er schreibt auch vom anderen, das dagegen erstrebenswert ist, vom Guten und Wohlgefälligen und Vollkommenen. Doch schon ein paar Sätze weiter mahnt er vor Überheblichkeit.
Im Museum ertappte er sich verwundert dabei, wie er das Bild eines holländischen Malers ausgiebig betrachtete. „Dörfliches Fest“ stand auf dem Rahmen. Sahen diese trinkenden, tanzenden Menschen nicht aus wie seine Nachbarn? Sie waren es dem Künstler wert gewesen, gemalt zu werden, waren wert genug, nun im Tempel der Kunst zu hängen. 
Als er ging, war der Nebel lichter geworden.
Unser Autor
Pastor Tilman Baier
ist Chefredakteur der Evangelischen Zeitung und der Kirchenzeitung Mecklenburg-Vorpommern.
Zum Predigttext des folgenden Sonntags schreiben an dieser Stelle wechselnde Autoren. Einen neuen Text veröffentlichen wir jeden Mittwoch.