Warum Boizenburg einen Kantor aus Venezuela hat

Als Junge war begeistert vom Klang der Orgel in Caracas. Heute spielt Napoleòn Savelli Poggio die Orgel in Boizenburg. Ein ungewöhnlicher Lebensweg.

Napoleòn Savelli Poggio an seiner Orgel in Boizenburg
Napoleòn Savelli Poggio an seiner Orgel in BoizenburgMarion Wulf-Nixdorf

Boizenburg. Die Kirchengemeinde Boizenburg hat den Kantor mit dem klingenden Namen Napoleòn Savelli Poggio angestellt – ohne dass er sich perönlich vorgestellt hatte. Aber wie denn auch? Ein Flugticket von Venezuela in Lateinamerika nach Deutschland und zurück ist unerschwinglich für einen Kantor. Gut, dass es Technik gibt. Per Skype stellte er sich den Kirchenältesten vor, mailte Orgelkonzerte, die er gespielt hat, an den Landeskirchenmusikdirektor, an die Gemeinde.
Und es gab Empfehlungen: Eine junge Auslandsvikarin aus der Nordkirche hatte Napoleòn als Kantor der Evangelisch-lutherischen Kirche deutscher Sprache zu  Caracas, einer Auslandskirche der EKD,  kennengelernt und war begeistert von seiner Arbeit. Sie wies ihn, der mit seiner Familie weg wollte aus dem krisengeschüttelten Land, auf die Ausschreibung der Kirchengemeinde Boizenburg hin. Auch kannte das Mecklenburger Pastorenehepaar Gebser den Kantor Poggio aus ihrem eigenen Auslandseinsatz und meinte, er würde passen nach Boizenburg. Napoleòn bewarb sich.

Gospel-Chor gegründet

Der Boizenburger Gemeindepastor Hartwig Kiesow ist begeistert, dass Napleòn nun seit Dezember hier ist.  Mit der deutschen Sprache hapert es noch, aber es wird von Tag zu Tag besser. Mit der Musik klappt es hervorragend.  Seit Jahrzehnten gab es in der Kleinstadt nahe der ehemaligen Westgrenze mit den 11 000 Einwohnern und 1400 Kirchenmitgliedern keinen Kantor mehr. Dankenswerterweise hat Cordula Dyrba, die auch in der katholischen Kirche ehrenamtlich die Messen musikalisch begleitet, in der evangelischen Kirche Orgel gespielt – wenn es zeitlich passte.
Doch nun einen eigenen Kantor zu haben – wenn bisher auch nur zu 50 Prozent angestellt – ist der Gemeinde eine große Freude: „Ein Gottesdienst ohne Orgel ist kläglich“, sagt Kiesow. Im Gemeinderaum ginge das noch, da sei man nahe beieinander. Aber in der großen Kirche nicht.
Innerhalb eines Vierteljahres seines Hierseins hat Napoleòn auch schon einen Gospel-Chor gegründet – wobei Gospel für alles Moderne steht, betont er. „Chorizont“ heißt der Chor und es gehören schon knapp 20 Sangesfreudige zwischen 30 und 60 dazu. Dieser neue Chor soll keine Konkurrenz für den bestehenden Kirchenchor sein, den weiter Cordula Dyrba leiten wird.

Mit der Kälte hat er keine Probleme

Kantor Poggio sitzt jeden Tag mehrere Stunden an der Friese-III-Orgel in der Kirche. Kalt ist es, nur eine kleine Heizung wärmt ihn. Die Kälte – er lacht – die ist hier sowieso sein Begleiter. Aber er freut sich auch, dass die Orgel restauriert werden soll. Denn verschiedene Teile funktionieren nicht mehr, nicht alle Tasten übertragen sich noch auf die Pfeifen. Das wertvolle Instrument ist das letzte Werk von Friedrich Friese III (1827-1896). Orgelbauer Andreas Arnold vom Mecklenburger Orgelbau in Plau am See hat sie sich schon genau angesehen. Rund 100 000 Euro wird die Restaurierung kosten. Aber jetzt, wo ein so großartiger Organist da ist, lohnt sich die Restaurierung auf jeden Fall, meint Kiesow. Die Kirchengemeinde ist nun dabei, ein Drittel der Summe – die anderen beiden Drittel kommen von Land und Kirche – aufzubringen.
Zur Unterstützung hat sich kürzlich ein Freundeskreis Orgel St. Marien in Boizenburg gegründet. Dessen Vorsitzende Astrid Wisser ist bereits eifrig auf Sponsorensuche, schreibt Briefe, spricht Menschen an.
Naoleòn Savelli Poggio ist mit seiner Frau und Sohn im Dezember 2015, kurz nach seinem 40. Geburtstag, nach Deutschland gekommen. Viele Boizenburger haben mit Möbeln, Geschirr, dem Nötigsten geholfen.
Doch was sich so einfach wie eine Reise anhört, hatte noch viele gewaltige Stolpersteine. Im März 2015 war er in Boizenburg als Kantor gewählt worden. Seine Frau, sein Sohn, acht Jahre alt, fingen schon in Caracas am Goethe-Institut an, Deutsch zu lernen. Um eine Arbeitsmöglichkeit in Deutschland zu bekommen, musste er sich als erstes einen Pass für die Europäische Union besorgen.

Mutter soll nachkommen

Er versuchte, in Venezuela über die dortige Botschaft die italienische Staatsbürgerschaft zu bekommen, da sein Großvater Italiener war. Aber Tausende wollen in Venezuela eine zweite Staatsbürgerschaft, um im Ausland leichter Arbeit zu finden, und es gelang Napoleòn nicht. Die Familie verkaufte alles und ging von Caracas aus im September 2015 nach Italien. Die Familie lebte drei Monate im Dorf der Vorfahren und bekam den ersehnten italienischen Pass. Großvater Poggio war 1928 nach Lateinamerika ausgewandert. Wie so viele in der Zeit. Inzwischen geht nun die Bewegung wieder in die andere Richtung: In Venezuela herrsche unter dem sozialistischen Präsidenten schlimme Korruption und Angst, erzählt Napoleòn.
Jährlich passieren um die 25 000 Morde im 30-Millionen-Land Venezuela, sagt Napoleòn, im Monat allein in der Hauptstadt 400. Sein älterer Bruder lebt bereits seit vier Jahren in Madrid, hat dort eine Anstellung gefunden. Seine Schwester lebt seit Oktober 2015 in Italien. Die alte Mutter, 70,  ist nun allein in Caracas. Die drei Geschwister hoffen, sie bald nachholen zu können. „Vor drei Wochen wurde ihre Tasche gestohlen, sie hat einen Schlag auf den Kopf bekommen“, erzählt der jüngste Sohn. „Ich bin so sorgenvoll“, sagt er.
Seine Träume? Er möchte gern, dass seine Familie in Sicherheit lebt, ein normales Leben ohne Angst  mit Freiheit führen kann. „Vielleicht wir können es bekommen in Deutschland“, sagt er und geht an „seine“ Orgel. Er liebt besonders Bach, Cesar Frank und Louis Vierne.
Dankbar ist er gemeinsam mit seinem Pastor, dass er eine B-Anstellung als Kantor bekommen hat – wenn auch erst einmal befristet für zwei Jahre.  Außerdem muss er sich um die Anerkennung seines Hochschul-Musikstudiums kümmern. Gespräche mit der Lübecker Musikhochschule laufen. „Immerhin hat er bereits 14 Jahre erfolgreich als Kantor und Orgeldirigent einer EKD-Auslandsgemeinde gearbeitet“, sagt Pastor Kiesow. In Caracas hat Napoleòn Savelli auch als Orgeldozent an der Hochschule gearbeitet. Gern hätte er hier ebenfalls  Orgelschüler, damit das kirchenmusikalische „Nachwuchsproblem“ in der Kirchenregion eine Chance auf Veränderung bekommt.