Die neue Bundesregierung wird sich mit Fragen von Krieg, Frieden und Sicherheit beschäftigen müssen, sagt der Wirtschaftsethiker Johannes Wallacher. Doch auch mit Klimawandel und Wissenschaftspolitik.
Die Bundestagswahl ist gelaufen. Für eine Wahlnachlese sprach die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) mit dem Münchner Wirtschaftsethiker Johannes Wallacher (58). Der katholische Wissenschaftler ist Präsident der Hochschule für Philosophie, die vom Jesuitenorden getragen wird. Und er berät die Deutsche Bischofskonferenz in politischen Grundsatzfragen.
Frage: Professor Wallacher, Deutschland hat gewählt. Was am Ergebnis überrascht Sie?
Antwort: Die große Stärkung der Ränder auf beiden Seiten. Die politische Mitte mag noch einmal davongekommen sein. Es reicht für eine Regierungsbildung, für Verfassungsänderungen aber schon nicht mehr. Das ist eine Zäsur.
Frage: Die Union hat unter dem Eindruck mehrerer Anschläge ein spektakuläres Manöver in der Migrationspolitik hingelegt. Hat sich der “Merz-Move”, wie es Markus Söder ausdrücken würde, ausgezahlt?
Antwort: Das ist Spekulation. Für die Union war es, glaubt man den Meinungsforschern, eher ein Nullsummenspiel. Zum einen hat sie eine beträchtliche Zahl an Nichtwählerinnen und -wählern gewinnen können, dafür hat sie welche an andere Parteien der Mitte verloren, vielleicht sogar auch an die Linkspartei. Zugleich muss sie jetzt durch das Manöver verlorenes Vertrauen erst einmal wieder aufbauen. Spekulieren kann man auch darüber, ob die AfD andernfalls womöglich noch mehr Stimmen geholt hätte.
Frage: “Die Migration ist nicht die Mutter aller Probleme”, hat Caritaspräsidentin Eva-Maria Welskop-Deffaa in einer ersten Reaktion gesagt.
Antwort: Das ist richtig. Aber die Wahrnehmung vieler Menschen ist so, das muss man unterscheiden. Man kann das beklagen, aber so ist leider die Realität derzeit.
Frage: Was sind die größten Herausforderungen für die neue Bundesregierung?
Antwort: Das ist sicherlich die dramatische Veränderung der Weltordnung, Fragen von Krieg, Frieden und Sicherheit. Für unsere Zukunft ganz entscheidende Themen blieben im Wahlkampf dagegen völlig unterbelichtet, vom Klimawandel bis zur Rente.
Frage: Sie sind Wirtschaftsethiker. Wie kann Europa, wie kann Deutschland den sich abzeichnenden Handelskrieg mit den USA unter Donald Trump bestehen?
Antwort: Die Europäer müssen zusammenrücken und ihre wirtschaftliche Stärke ins Spiel bringen. Es war ein Fehler, vor zehn Jahren das umstrittene Freihandelsabkommen TTIP mit den USA nicht abzuschließen. Trotz aller Mängel, die es hatte. Jetzt stehen wir mit den Südamerikanern und dem Mercosur-Abkommen vor ähnlichen Fragen. Natürlich müssen wir versuchen, möglichst viele unserer wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Ziele einzubringen, aber wir werden auch Kompromisse machen müssen.
Frage: Warum?
Antwort: Weil eine Exportnation wie Deutschland auf eine internationale Ordnung mit fairen Handelsregeln besonders angewiesen ist. Neuere Studien zeigen deutlich, dass autokratische Systeme kurz- und mittelfristig wirtschaftlich nicht die Leistungsfähigkeit hervorbringen wie weltoffene und regelbasierte Volkswirtschaften.
Frage: Die deutsche Arbeiterschaft wählt nicht mehr SPD, sondern AfD. Dabei hat sie von dieser Partei am wenigsten für sich zu erwarten. Wie ist das einzuordnen?
Antwort: Da spielt Desinformation eine Rolle, aber auch fehlende Wahrnehmung. Deutschland ist jetzt im dritten Jahr in einer Rezession. Wirtschaftliche Stabilität wird notwendig sein, um das Vertrauen in die neue Koalition zu stärken. Sie ist gefordert nicht nur bei der Etablierung eines kontrollierten Migrationssystems, das mit unserem Wertesystem vereinbar ist. Durch Investitionen und Innovationen gilt es eine nachhaltige Transformation der Wirtschaft voranzutreiben. Wir müssen nach vorne schauen, um wettbewerbsfähig zu bleiben und so soziale Sicherheit zu gewährleisten.
Frage: Kirche und Union fremdeln immer stärker miteinander. Aber das C steht noch im Parteinamen. Muss sich auch in dieser Beziehung etwas ändern?
Antwort: Ich würde das nicht zu dramatisch sehen. C-Parteien wie auch die Kirchen sind keine monolithischen Blöcke mehr, die Risse gehen bei vielen Themen durch beide hindurch. Was vielleicht auf beiden Seiten in den vergangenen Wochen und Monaten nicht ausreichend berücksichtigt wurde, ist, dass Gesinnungs- und Verantwortungsethik nicht gegeneinander ausgespielt werden sollten. Da gilt es immer wieder neu abzuwägen.
Frage: Papst Franziskus liegt schwer krank darnieder. Seine Kernanliegen Klimaschutz und globale Gerechtigkeit haben im Wahlkampf so gut wie keine Rolle gespielt. Ist das symptomatisch?
Antwort: Das ist dramatisch und zeigt, wie sich die Weltordnung zehn Jahre nach seiner bahnbrechenden Sozial- und Umweltenzyklika “Laudato si”, dem Klimaabkommen von Paris und der Verabschiedung der globalen Nachhaltigkeitsziele verschoben hat. Nichtsdestotrotz bleibt seine Analyse richtungsweisend, dass die soziale und die ökologische Krise untrennbar miteinander verbunden sind. Und dass sie nur gemeinsam zu lösen sind, auch mit wirtschaftlicher Vernunft, nicht nur mit moralischen Appellen. In den Wirtschaftsbeiräten gibt es dazu eigentlich einen relativ klaren Konsens, welchen Pfad wir da einschlagen müssen.
Frage: Und in der Wissenschaftspolitik? Sie leiten eine Hochschule.
Antwort: Gebot der Stunde wäre ein europäisches Anwerbeprogramm für Nachwuchswissenschaftler aus den USA, die dort gerade heimatlos werden. Europa braucht die besten Köpfe, um im internationalen Wettbewerb um Innovationen bestehen zu können.
Frage: Hätten Sie dafür auch Platz an Ihrer Hochschule?
Antwort: Für motivierte Talente immer.