Sehnsucht nach Ruhe

Über die himmlische Ruh schreibt Pastor Tilman Baier. Er ist Chefredakteur der Evangelischen Zeitung und der Kirchenzeitung MV.

Der Predigttext des folgenden Sonntags lautet: „Gott, so blicke doch weg von ihm, damit er Ruhe hat, bis sein Tag kommt, auf den er sich wie ein Tagelöhner freut.“ aus Hiob 14, 1-6
Mit einem frischen „Guten Morgen“ betrat die Krankenpflegerin das Zimmer. Er wusste schon, dass der nächste Satz lauten würde „Versuchen Sie doch wenigstens, kurz aufzustehen und aus dem Fenster zu schauen, während ich Ihr Bett mache“. Doch er wollte nicht. Er würde doch nur ein paar fahle Lampen in der ersten Dämmerung sehen, in Novembernebel gehüllt. Und den Landeplatz des Rettungshubschraubers. Manchmal flatterte der dazu­gehörende Windsack so, als hätte sich eine Seele irgendwo in dem Riesenkomplex von einem Körper getrennt und strebe nun gen Himmel.

Auch wenn der Klinikseelsorger irritiert geschaut hatte, als er ihm von diesem Gedanken erzählte – er fand ihn befreiend. Endlich ewiger Frieden dort im grauen Nichts. Und bis es so weit war, wollte er auch hier nur noch seine Ruhe. Es war ja gut gemeint, dass sich alle um ihn bemühten, die Pflegerin, der Seelsorger, die Familie. Aber wenn er sich anschaute, sah er nur noch ein Wrack. Auch über sein Leben mochte er weder nachdenken noch mit jemandem sprechen. Da war einiges schiefgelaufen. Aber was sollte er jammern?

Darüber, dass manche immerzu jammerten, waren er und sein Bettnachbar ins Gespräch gekommen. Der andere war, das hatte er schon mitbekommen, ein ganz Frommer, aber ein echter. Das nötigte ihm Respekt ab. Er selbst war eher ein kulturprotestantischer Gelegenheitschrist. Bach, Mendelssohn, Reger. Er wagte, von seiner Sehnsucht nach tiefer Ruhe zu erzählen. Sein Nachbar fand das legitim und erzählte von Hiob, dem Dulder, der auch nur noch wollte, von allen, auch von Gott, in Ruhe gelassen zu werden.

Doch warum galt dann dieser Prophet – das war ihm wieder eingefallen – den Alten als Schutzpatron der Musik? Wegen seines Jammerns? Besser gefiel ihm die Vorstellung aus seiner Kindheit, dass in der vielbeschworenen „himmlischen Ruh“ bei Gott Engelschöre musizieren. Und er nahm sich vor, am absehbaren Lebensende mit dem „Messias“ im Kopfhörer zur letzten Reise aufzubrechen, die wohl doch nicht nur in einem grauen Nichts enden würde.
Unser Autor
Pastor Tilman Baier ist Chefredakteur der Evangelischen Zeitung und der Kirchenzeitung MV
Zum Predigttext des folgenden Sonntags schreiben an dieser Stelle wechselnde Autoren. Einen neuen Text veröffentlichen wir jeden Mittwoch.