„Es ist normal, verschieden zu sein“

Schon seit Jahrzehnten gehört die Behindertenhilfe Othmarschen zur Christuskirchengemeinde. Ein engmaschiges Netz aus Spendern und Stiftern und das Engagement der Pfadfinder machen diese Arbeit möglich.

Ausflüge gehören zum Programm der Behindertenhilfe dazu
Ausflüge gehören zum Programm der Behindertenhilfe dazuJan Stölting

Hamburg. Nachmittags um halb vier geht’s los. Dann wird der Kellerraum der Christuskirche in Hamburg-Othmarschen von Weißfüchsen und Fischadlern gestürmt. Einige werfen sich aufs Sofa, andere schmökern in den Fahrtenbüchern mit den eingeklebten Fotos, und die wildesten unter ihnen laufen gleich wieder nach draußen, um Verstecken zu spielen. Der Stress eines langen Schultages muss abgeschüttelt werden. Vielleicht wird später gebastelt, getöpfert oder über die nächste Reise gesprochen. Bis zur Pfingstfahrt ist es nicht mehr lange hin.

Die Kinder und Jugendlichen, die sich Weißfüchse und Fischadler nennen, gehören zu den „Pfadfindern Trotz Allem“, kurz PTA. „Trotz Allem“ – das bedeutet, die Kinder und Jugendlichen sind körperlich oder geistig beeinträchtigt. Manche sitzen zum Beispiel im Rollstuhl, andere können sich schwer artikulieren oder Dinge nur langsam erfassen. Trotzdem wandern sie durch Wälder, kochen am Lagerfeuer, singen und schlafen nachts in Zelten. „So lernen sie, sich auf andere Menschen einzulassen und zu vertrauen“, sagt Jan Stölting.

Vertrauen erworben

Der Diakon gehört zum Team der Behindertenhilfe der Christuskirche Othmarschen, einer der wenigen Freizeitanbieter für Menschen mit Behinderung in Hamburg, deren Motto lautet „Es ist normal, verschieden zu sein“. Stölting leitet die Pfadfindergruppen und den Konfirmandenunterricht im Kinder- und Jugendbereich, und er vertraut den Kindern genauso wie sie ihm.

Gemeinsam stechen die Kinder in See
Gemeinsam stechen die Kinder in SeeJan Stölting

„Wir gucken nicht so sehr nach der Diagnose“, sagt der 45-Jährige, es gehe immer um den Menschen, der vor einem stehe. Für seine Konfirmanden legt er stets Stifte und Papier bereit. Mit Malerei können sich die Kinder, die nicht sprechen, nämlich gut ausdrücken. „Wichtig sind die eigenen Gebete, die die Kinder formulieren und bei denen es um ganz konkrete Dinge geht, etwa, dass die Oma wieder gesund wird“, erzählt Stölting.

Seit 1959 gehört  die Behindertenhilfe zur Kirchengemeinde. Alles fing an, als die damalige Gemeindepädagogin mit den Pfadfindern, die sich auch heute noch in der Christuskirche treffen, auf Tour gehen wollte. Ein Elternpaar fragte, ob ihr Kind mitkommen dürfe – es saß im Rollstuhl. Es durfte.

Gemeinde gibt Ausfallgarantie

Die Arbeit mit körperlich und geistig beeinträchtigten Menschen wurde ausgeweitet, mittlerweile besuchen mehr als 90 Kinder, Jugendliche und Erwachsene die Gruppen und Kurse und nehmen an Ausflügen teil. Vier hauptamtliche Mitarbeiter, die sich zwei Vollzeitstellen teilen, leiten den Bereich, rund 30 Ehrenamtliche sind regelmäßig dabei. Die Kosten von 240 000 Euro für die Behindertenarbeit finanziert die Gemeinde nahezu ausschließlich über Spenden und Stiftungen.

„Für gute Kontakte zu Spendern und Stifterinnen ist Transparenz nötig“, weiß Jörg Medenwaldt. Der 62-jährige Diakon arbeitet seit 46 Jahren mit Menschen mit Beeinträchtigungen, davon 22 Jahre angestellt bei der Christuskirchengemeinde. Dort hat die Behindertenhilfe einen eigenen Haushalt, zwei Mal jährlich schreibt das Team einen Spendenbrief und berichtet über alle Aktivitäten. Stehen größere Ausgaben an wie kürzlich die Reparatur des Fahrstuhls, schreibt Medenwaldt auch schon mal das Hamburger Spendenparlament an, das gemeinnützige Projekte fördert. Und sollte das Geld einmal nicht reichen, stärkt die Kirchengemeinde der Behindertenhilfe den Rücken mit einer Ausfallgarantie.

Empathie muss sein

Drei Eigenschaften brauchen Menschen, die in der Behindertenhilfe mitmachen wollen: eine empathische Grundeinstellung, Gelassenheit und Ausdauer. „Wir versuchen, Integration und Inklusion zu leben. Die Behindertenhilfe ist ein selbstverständlicher Teil der Gemeinde, und ich habe nie erlebt, dass jemand ausgegrenzt wurde, sei es bei Sommerfesten, Gottesdiensten oder wenn man auf dem Hof zusammentrifft. Unsere Aufgabe ist es, die behinderten Menschen dabei zu unterstützen, sich freier in der Gesellschaft bewegen und sich an neue Situationen anpassen zu können“, sagt Medenwaldt.

Neue Erlebnisse werden die Weißfüchse und Fischadler in diesem Jahr ganz bestimmt haben. Für die Pfingstfahrt hat Jan Stölting eine Geländewanderung geplant. Die Kinder im Rolli kommen selbstverständlich mit und werden über Stock und Stein von den anderen getragen.