Doku über Kindheit im Jahr 1945 zum Jahrestag des Kriegsendes

Am 8. Mai 1945 endete hierzulande der Zweite Weltkrieg. Mittendrin: unzählige Kinder, die Entsetzliches gesehen und erlebt hatten. Und die Schrecken waren keineswegs vorbei. Eine Doku stellt Überlebende vor.

In Zusammenarbeit mit filmdienst.de und der Katholischen Filmkommission gibt die KNA Tipps zu besonderen TV-Filmen:

Der Dokumentarfilm rekapituliert das Jahr 1945 in Deutschland aus der Sicht von Kindern. Menschen, die damals klein waren, erinnern sich im Alter von 80 Jahren oder mehr an ihre Wahrnehmung der damaligen Zeit.

Noch Wochen nach dem 8. Mai 1945 habe er sich in Panik auf die Erde geworfen, wenn irgendwo am Himmel ein Flugzeug erschien, berichtet Paul Diefenbach (damals 7 Jahre alt) aus Köln. Bis heute träumt er davon, dass sein im Krieg vermisster Vater wieder in der Tür erscheine, erzählt Alois Schneider (Jahrgang 1933) aus dem Saarland. Als sie die ersten Bilder aus den KZs zu sehen bekam, habe sie sich ihrer BDM-Uniform geschämt und später begonnen, Geschichte zu studieren, erzählt Elfie Walther (17) aus Delmenhorst.

Im dunklen Raum gefilmt, so dass nur ihre beredten Gesichter ins Bild kommen, entsteht ein Kaleidoskop des Krieges, das vom Grauen in vielfacher Form berichtet, anschaulich gemacht durch Archivmaterial. Die dezente Inszenierung rechnet weder Schicksale gegeneinander auf, noch sentimentalisiert sie die Berichte, vermittelt aber in großer Eindringlichkeit die Botschaft eines “Nie wieder!”.

Schwer erträglich ist dieser Film. Und unmöglich zu sagen ist, welches der Schicksale, von denen hier berichtet wird, wohl die schwerste (Lebens-)Last bedeutete. In jedem Fall aber war es eine Last, die fast ein ganzes Leben lang getragen werden musste: Denn die hier Porträtierten waren Kinder, als der Zweite Weltkrieg halb Europa und noch so vieles mehr verwüstete. “Kinder des Krieges – Deutschland 1945” heißt die Doku, die der MDR kurz vor dem Jahrestag des Kriegsendes ausstrahlt.

In “Kinder des Krieges” lässt Filmemacher Jan N. Lorenzen zahlreiche über 80-Jährige erzählen, wie sie das Jahr 1945 in Deutschland erlebt haben. Chronologisch geordnet von Januar bis Dezember, von den letzten Kriegsmonaten bis zum ersten Weihnachten in “Friedenszeiten”. Anschaulich gemacht werden die Geschichten durch eine Fülle an Archivmaterial, Fotos und Filmaufnahmen, die Pressevertreter, Privatleute oder Soldaten während des Krieges und nach der Befreiung machten.

Da ist der zwölfjährige Günter Scheerer, der in Zweibrücken aus Furcht vor Bombenangriffen monatelang in einem Stollensystem lebte. Oder Günter Lucks aus Hamburg, der mit 16 Jahren Scharfschütze beim Volkssturm wurde. Die zehnjährige Gisela Jäckel, deren Mutter von der Gestapo einbestellt wurde und nie mehr zurückkam. Fortan wurde sie als “Judenmädchen” beschimpft: “Wie rumgedreht” seien die Menschen gewesen, erinnert sich die alte Dame. Die aus Krakau stammende Ruza Orlean wiederum wurde als 16-Jährige ins KZ Auschwitz deportiert. Barney Sidler erzählt von dem achttägigen, hygienisch entsetzlichen Zugtransport ins KZ Buchenwald.

Hier sind auch Bilder der Leichenberge aus den Vernichtungslagern zu sehen, kaum zu fassende Zeugnisse davon, zu welchen Monstrositäten die Menschen fähig waren. Grauenvoll auch der Bericht von Brigitte Rossow aus dem mecklenburgischen Demmin, wo die (offiziell geschürte) Angst vor den nahenden Russen ein Massaker verursachte: Die Bewohner des Ortes brachten sich selbst, ihre Kinder und Enkelkinder um. Über 600 starben; die zehnjährige Brigitte überlebte knapp.

Der zwölfjährige Alois Schneider aus Saarlouis wiederum wurde beim Spielen mit Munition verstümmelt, eine Granate riss ihm Bein und Hand ab. Waltraud Pleß war mit ihrer Familie nach Schleswig-Holstein geflohen, wo sie als Zehnjährige von einem russischen Soldaten sexuell missbraucht wurde. Und Ruprecht von Poncet wurde als Jugendlicher über Monate unter grauenvollen Bedingungen interniert.

Die Überlebenden dieser Schrecken erzählen auf sehr unterschiedliche Weise von 1945: Gefasst, emotional, unter Tränen, überraschend positiv oder manchmal auch seltsam ungerührt, als würde es gar nicht um das eigene Leben gehen. Und hin und wieder sogar mit einem unpassend erscheinenden Lachen – was wohl auch nur eine Form des Umgangs mit dem kaum Erträglichen ist. Immer aber sieht und hört man gebannt zu, versucht zu verstehen, wie all dies möglich war. Lorenzen hat mit all diesen Stimmen ein Kaleidoskop des Krieges von unschätzbarem Wert geschaffen. Die unmittelbaren Zeugen dieser Zeit sterben gerade aus – umso wichtiger ist es, zu hören, was sie zu sagen haben.

Die Sorge, dass der hier zentrale Fokus auf die ganz normalen “deutschen” Kinder die noch viel größeren Schrecken relativieren könnte, denen Juden, ihre Kinder und andere von den Nazis Verfolgte ausgesetzt waren, ist nicht begründet: Der Film erzählt auch die Geschichten KZ-Überlebender, zeigt Bilder aus Vernichtungslagern und thematisiert das Schicksal verfolgter Gruppen – insbesondere der Juden, aber auch das behinderter Menschen, die der Euthanasie zum Opfer fielen. Ein Versuch des “Aufrechnens” findet an keiner Stelle statt, die Doku wählt stets den richtigen Ton. So ist “Kinder des Krieges” ein höchst sehenswertes Dokument des Grauens geworden, das mit jeder Minute seiner Laufzeit ein “Nie wieder!” in die Welt hinauszurufen scheint.