Den Marathon holt er irgendwann nach

Gerade hat die Osterzeit, die Zeit des neuen Starts, angefangen. Der Hamburger Wilfried Buss lebt seit sechs Jahren mit einem Spenderherzen. Porträt eines Kämpfers, der noch einen großen Wunsch hat.

Wilfried Buss im Hafen von Damp an der Ostsee
Wilfried Buss im Hafen von Damp an der OstseeCatharina Volkert

Wellingsbüttel / Damp. Sein Sohn weigerte sich, ins Krankenhaus zu kommen. Er ertrug den Anblick nicht mehr, seinen Vater im Krankenbett zu sehen: Schläuche, Kabel, Monitore – und ein schwerstkranker Papa.
Das war zwischen 2007 und 2011. Buss hat in seinem Leben mehrfach dem Tod nahe gestanden. Dass er heute lebt, ist für ihn „göttliche Fügung“. Es gab eine Zeit in seinem Leben, als eine Operation auf die andere folgte. „Ich weiß gar nicht mehr, wie viele es waren“, sagt Buss. Er sitzt im Café beim Reha-Zentrum in Damp an der Ostsee, dort ist er zur Kur: drei Wochen Körper- und Seelencheck.
Ärzte prüfen Buss hier wie so oft auf Herz und Nieren – im wahrsten Sinn des Wortes. Denn diese wurde ihm 2011 transplantiert – er lebt seitdem mit den Organen eines anderen Menschen.

Schweißgebadet nach Radtour

Buss ist 65 Jahre alt. Früher, als sein Herz wie selbstverständlich pumpte, war er Gesamtschullehrer, der Schülern Mathematik und Englisch beibrachte, saß für die SPD in der Hamburger Bürgerschaft, joggte, schaffte den Marathon – ein aktiver Familienvater von zwei Kindern. Bis sich alles änderte.
„Im Jahr 2000 habe ich gemerkt, dass etwas nicht stimmt“, erinnert er sich. Damals fuhr Wilfried Buss täglich mit dem Fahrrad zur Schule. Als er immer häufiger schweißgebadet und mit rasendem Herzen im Lehrerzimmer eintraf, sagte er eines Tages: „Ich schaffe das nicht mehr“. Buss ging zum Kardiologen. Drei Tage später bekam er drei künstliche Herzklappen. Das war die erste von vielen Operationen. 
Ab 2007 ging es ihm immer schlechter, rund alle sechs Wochen war er im Universitätsklinikum Eppendorf (UKE). Seine Kardiologin sagte eines Tages: „Wissen Sie was, ich melde sie für eine Transplantation an.“ Er sollte ein neues Herz bekommen – und vom selben Spender eine neue Niere, um nicht von der Dialyse abhängig zu sein.

Schock nach der Operation

„Ich war erschrocken“, erinnert sich Buss an das Gespräch im Klinikum. „Dabei geht es um Leben und Tod – entweder eine Transplantation gelingt oder nicht.“ Entweder der Körper nimmt das gespendete Organ an – oder stößt es ab. Entweder – oder.
Das Ehepaar Buss beriet sich. Das Wissen, dass sein schwaches Herz nicht mehr lange arbeiten könne, überzeugte sie. Buss’  Vater war mit 55 Jahren gestorben – an einem Herzfehler, den die Ärzte damals nicht erkannt hatten. „Ich wollte meinen Sohn aufwachsen sehen“, sagt Buss. Dieser war damals 5 Jahre alt.
Innerhalb eines Jahres fanden die Ärzte passende Spender-Organe, alles „verlief prima“. Welches Herz heute in ihm schlägt, fragt Buss sich nicht. „Ich habe ein neues Herz geschenkt bekommen – und dafür bin ich dem Menschen und seinen Angehörigen unglaublich dankbar“, sagt er.
Nach der OP fühlte sich Buss „wie der König der Löwen“, er war voller Energie. Nach acht Tagen änderte sich sein neues Leben jedoch erneut. „Ich bin damals aufgestanden, habe die Vorhänge des Fensters aufgezogen und mir wurde schwarz vor Augen.“ Buss brach zusammen. „Es war so viel Power im neuen Herzen, dass eine Ader im Gehirn geplatzt ist“, erklärt er. „Als ich dann aufgeweckt wurde, war meine Festplatte gelöscht. Ich wusste nur noch meinen Namen und mein Geburtsdatum“, erinnert er sich. „Aber mit Gottes Hilfe ist alles gut gegangen.“

Neuer Lebensmut

Buss brauchte Hilfe – bei allem. „Ich habe nichts hingekriegt, konnte mit Messern und Gabel nichts anfangen – ich wollte doch wieder ich sein.“ Die Erinnerungen kehrten langsam wieder zurück. Monate später kam er in eine neurologische Klinik nach Bad Segeberg. Seine Frau, die ihn rund um die Uhr gepflegt hatte, konnte nicht mehr. Für Buss war das ein herber Schlag, er fühlte sich allein gelassen. Doch der Aufenthalt tat ihm gut, er gewann neuen Lebensmut. „Ich habe lesen, schreiben und rechnen wieder gelernt“, sagt der frühere Lehrer. „Das wichtigste Organ für mich war doch immer die Sprache, ich bin doch Politiker.“
Mit dem neuen Leben kam auch der alte Kämpfer zum Vorschein. Buss ist heute in der AWO-Seniorenarbeit aktiv und wirbt auf Veranstaltungen für Organspenden. In Damp hat er seinen Ärzten erzählt, dass er wieder ­einen Marathon laufen möchte. Dazu muss er wieder bei null anfangen, wie schon so oft in seinem Leben.