Bilder jenseits des Wirtschaftswunders

Zeitgenossen schildern Chargesheimer als Künstler mit Ecken und Kanten. Vor allem aber machte es ihm offenbar wenig aus, dass seine Arbeiten von vielen Menschen nicht verstanden wurden. Er wolle sein Gehirn benutzen, erklärte der Künstler einmal ironisch. „Und wenn Sie heutzutage fotografieren, dann ist Gehirn hinderlich.“ Chargesheimers ungeschönte Fotografien des Alltagslebens der Menschen in Köln oder im Ruhrgebiet gefiel vor allem den offiziellen Stadtrepräsentanten wenig, machte ihn jedoch als Fotografen bekannt.

Anlässlich des 100. Geburtstags von Chargesheimer (1924-1971) würdigt das Museum Ludwig in Köln den Fotografen ab Samstag (27. April) mit einer Werkschau. Die Ausstellung „Chargesheimer“ präsentiert rund 50 Arbeiten aus der museumseigenen Sammlung. Der Schwerpunkt liegt auf seinen beiden Fotobüchern „Cologne intime“ und „Unter Krahnenbäumen“, mit denen Chargesheimer in den 1950er Jahren bekannt wurde. Daneben zeigt die Ausstellung, die bis zum 10. November zu sehen ist, einige von Chargesheimers experimentellen Arbeiten und erstmals seit rund 20 Jahren drei seiner kinetischen Skulpturen.

Chargesheimer, der mit bürgerlichem Namen Karl Heinz Hargesheimer hieß, wurde am 19. Mai 1924 in Köln geboren. Bekannt wurde er vor allem als Fotograf. Er malte aber auch, schuf Bühnenbilder und führte Regie. Aufsehen erregte er unter anderem durch seine Porträts von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, darunter 1957 eine Fotografie des damaligen Bundeskanzlers Konrad Adenauer für das Magazin „Der Spiegel“.

Chargesheimers Schwarz-Weiß-Fotografien zeichnen sich durch den ungeschönten, aber empathischen Blick auf das Alltagsleben der Menschen aus. Damit setzte er sich von den gängigen Erwartungen an die Fotografie in der Zeit des Wirtschaftswunders ab. Das zeigt sich bereits in seinem ersten Fotobuch „Cologne intime“ (1957). Die Fotografien zu dem Band lieferte er im Auftrag des damaligen Leiters des Nachrichtenamtes der Stadt Köln, Hans Schmitt-Rost. Der Auftrag lautete, den Wiederaufbau der Stadt zu dokumentieren, dabei aber auch den Blick auf die typischen Kölnerinnen und Kölner zu richten.

Chargesheimer fotografiert zum Beispiel die Hohe Straße, die zehn Jahre nach Kriegsende mit ihren reich gefüllten Geschäftsauslagen und vielen Passanten für den Wirtschaftsaufschwung steht. Dennoch liefert der Fotograf ganz eigene Blicke auf das Geschehen, indem es ihm gelingt, mitten im Trubel einzelne Menschen hervorzuheben. So rückt er etwa einen Straßenfeger mitten ins Bild, der den Fotografen anzuschauen scheint.

Abseits der wiederaufgebauten Innenstadt fotografiert Chargesheimer aber auch das Nachtleben, Arbeiterkneipen und Gaststätten mit Prostituierten. Und er wirft den Blick in ärmliche Hinterhöfe mit Wäscheleinen und Waschzubern. Während Chargesheimers Fotografien von einem offenen und anteilnehmenden Blick zeugen, liefert Schmitt-Rost zu dem Fotoband Texte, die die Aufnahmen einordnen und bewerten.

Die Zeit des Nationalsozialismus in Köln wird dabei kleingeredet. Es sei in Köln „weniger Böses als anderswo“ geschehen, schreibt Schmitt-Rost. Chargesheimer weckt die Assoziationen an den Nationalsozialismus hingegen auf subtile Weise. Er fotografiert 1956 auf dem Katholikentag in Köln eine Menschenmasse, deren zum Gruß erhobene Arme an den Hitlergruß erinnern.

Mit dem Fotobuch „Unter Krahnenbäumen“ (1958) startet Chargesheimer dann ein eigenes Projekt. Er porträtiert die gleichnamige Straße im Schatten des Kölner Doms. „Chargesheimer hat den Wunsch, die Menschen ohne Pathos und Sentimentalität vorzustellen“, sagt Ausstellungskuratorin Barbara Engelbach. Er fotografiert den Alltag in dem ärmlichen Viertel: Eine Frau mit einer Einkaufstasche voller Brennholz und einem Kind an der Hand, auf Kisten sitzende Menschen vor einem Gemüseladen oder Nachbarn beim Schmücken der Straße für die Fronleichnamsprozession.

Ein zweiter Teil der Ausstellung zeigt Chargesheimers lichtgrafische Arbeiten. Der Künstler bearbeitete Negative oder Fotopapiere durch Kratzen, Erwärmen sowie mit Basen, Säuren und Farben. Es ist eine gestische Zerstörung von Bildern und damit ein Angriff auf die zeitgenössischen Erwartungen an die Fotografie. Ab 1967 widmet sich Chargesheimer vor allem seinen „Meditationsmühlen“. Die kinetischen Skulpturen bestehen aus zahlreichen Plexiglas-Elementen, die mit Hilfe von Zahnrädern bewegt werden. In der Ausstellung sind drei der Skulpturen zu sehen, die jedoch leider aus konservatorischen Gründen nicht mehr in Betrieb genommen werden.